Sagenüberlieferung und lokale Identität
Sagenüberlieferungen als prägende Faktoren lokaler und regionaler Identität in Thüringen
Zur traditionellen Jahresversammlung des Vogtländischen Altertumsforschenden Vereins am 20. August 2011 hielt der bekannte Sagenforscher und Publizist Rainer Hohberg aus Hummelshain das Festreferat. Ersprach über „Sagenüberlieferungen als prägende Faktoren lokaler und regionaler Identität in Thüringen“.
Der Referent ging zunächst auf die großen Traditionen der Sagenforschung in Thüringen ein, die beginnend mit den Brüdern Grimm, über
Ludwig Bechstein, August Witzschel, Ludwig Wucke und den für Ostthüringen besonders wichtigen Robert Eisel eine Reihe bedeutender Sagensammlungen erarbeitete. Das Archiv des Vogtländischen Altertumsforschenden Vereins spielte dabei keine unbedeutende Rolle. Ziel
dieser Autoren war es dabei, die Volkssagen als wertvolles Kulturgut zu bewahren.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts beobachtete man aber auch schon ein allmähliches Vergessenwerden und Verschwinden dieser Überlieferungen. So mancher meinte, dass im aufkommenden industriellen Zeitalter die Sage vollends erlöschen werde. Doch hat sich das bis heute so nicht bewahrheitet. Totgesagte leben eben länger.
Das Interesse an Sagen und Sagenhaftem ist gegenwärtig ungebrochen. So erschienen im Verlag Rockstuhl in Langensalza derzeit 43
Sagenbücher, und das ist nur ein Teil des gegenwärtigen Angebots. Trotzdem sind gute, besonders historische Sagenbücher oft Mangelware.
Die Erfahrungen des Sagendetektives besagen außerdem, dass in Schulen und ebenso unter Erwachsenen eine erstaunlich hohe Anzahl Befragter Kenntnisse zur regionalen Sagenwelt besitzen. Allerdings hat sich die Sagenrezeption seit Grimm und Bechstein
grundlegend gewandelt. Die Sage, nach den Grimms „kunde von den ereignissen der vergangenheit, welche einer historischen beglaubigung entbehrt,“ wurde im Verlauf ihrer mündlichen wie schriftlichen Überlieferung den jeweiligen Bedürfnissen und Zeitumständen
entsprechend variiert und verändert und im wahrsten Sinne des Wortes w e i t e r erzählt. Von der fast negativen Wertung als „Lug und Trug, Aberglauben und Fabelwerk“ in der Aufklärung über die begeisterte Auffassung als „Volkspoesie und gesprochene Geschichtserzählung mit hohem ethischem Wert“ in der Romantik entwickelten sich die zeitge-nössischen Auffassungen im Kaisereich, der Weimarer Republik, dem dritten Reich und der DDR-Zeit.
Belegt mit einer Vielzahl von Bilddokumenten ging der Referent auf einige konkrete Sagenbeispiele aus Thüringen ein.
Ein interessantes Beispiel ist der „Kranichfelder Leckarsch“, die bekannte Steinfigur am Kranichfelder Oberschloß. Unabhängig
vom allgemeinen Begriff des unterwürfigen, widerlichen Schmeichlers erzählt die Erstaufzeichnung der Sage durch Ludwig Bechstein von einem fiktiven Bruderzwist beim Bau des Schlosses, der zu dieser Figur führte. Eine solche Auseinandersetzung gab es zwar nie, wohl aber war das Territorium im Verlauf der Geschichte in Ober- und Niederkranichfeld geteilt, was zu widersprüchlichsten politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen führte. Die Sage gab auf sagenhafte Art eine Antwort auf die Frage nach dieser Trennung.
„Das geschah durch Hass und Neid – beweiset nun in dieser Zeit, dass wir schon längst davon befreit!“ heißt es auf einem Notgeldschein dazu. Weitere Überlegungen und Nachforschungen ergaben aber noch eine weitere Deutung. Im spätmittelalterlichen Volksglauben war das Herausstrecken der Zunge ebenso wie das Zeigen des nackten Hinterteils eine besonders wirksame apotropäische (unheilabwehrende) Geste und Beschimpfung gegen böse Geister und Gefahren.
Heute ist die ursprüngliche Bedeutung der kleinen Skulptur in Vergessenheit geraten. In Kranichfeld aber ist der „Leckarsch“ heute nicht
mehr ehrenrührig. Man kann für besondere Verdienste eine „Leckarsch“-Münze in Gold verliehen bekommen, die Gaststätte „Zum Leckarsch“ aufsuchen und sogar ein Theaterspiel erleben.
Vielerorts tragen die altüberlieferten Erzählungen wie in Kranichfeld dazu bei, Heimatgefühl zu bewahren und zu fördern, heimatliche
Identität auszuprägen.
Ein weiteres Beispiel ist die Sage vom „Rhönpaulus“ in der thüringischen Rhön. Grundlage ist wahrscheinlich eine historische Figur, der
Schafhirt, Knecht und Soldat Johann Heinrich Valentin Paul (1736-1780), der am Galgen endete. Als „edler“ Räuber und Bösewicht trägt er auch die Züge eines Hexenmeisters. Über sein Leben weiß man wenig, aber dafür entstanden zahlreiche Sagen und Anekdoten und machten ihn zu einer wahren Sagengestalt. Trotzdem ist er heute in diesem Teil der Rhön allgegenwärtig. Wanderwege und Gasthäuser tragen seinen Namen. Es gibt Bücher, Gemälde, Denkmäler, das Dermbacher Museum bietet eine Sonderausstellung und beim Rhöner Sagenfest wird er besungen. Er ist zu einer Identifikationsfigur geworden.
Ähnlich ist es mit der Schleusinger „Slusia“-Sage von einer schönen mysteriösen Nixe aus der, wohl frei erfundenen, Gründungssage der
Stadt. Auch diese Sagenfigur ist in Schleusingen überall präsent. Sie zieht als Gemälde oder Plastik im Rathaus und Museum, oder als (umstrittenes) Bronze-Denkmal die Blicke auf sich, ist Namengeber für Vereine, Veranstaltungen und Auszeichnungen.
Hier sei eingefügt, dass auch unser regionaler Volksheld des Thüringer Vogtlandes, der Bauerngeneral Georg Kresse, eine solche Sagen- und
Identifikationsfigur ist.
Ein Faktor der lokalen Identifikation und des Heimatbewußtseins sind diese Sagengestalten jedenfalls in hohem Grade.
Auch dämonologische Sagenfiguren findet man noch heute in den örtlichen Erzählungen. Ein Beispiel dafür ist der „Aufhocker“ aus dem
Greizer Park, andernorts auch Huckauf, Schrätel, Trut, Pumpälz, Bieresel oder Alp genannt. Er sucht des nachts einsame Wanderer und Heimkehrer heim, springt ihnen auf den Rücken, schlägt und würgt sie, dass ihnen der Angstschweiss ausbricht, wird immer schwerer und zur unerträglichen Last. Er belästigt aber auch Schlafende im Bett und quält sie gleichermassen., sodass auch sie in Schweiß ausbrechen. Auf die Frage nach dem Kern dieser Sage, erklärte diese spontan ein Arzt als Beschreibung der Angina pectoris. Das Beschwerdebild von Brustschmerzen, Engegefühl in der Brustgegend und Atembeklemmung bis hin zur Todesangst spräche eindeutig für eine solche Erkrankung. Diese Erklärung hat eine starke Überzeugungskraft, zumal diese Sage überall bekannt ist und nicht regional oder örtlich gebunden.
Eine Sage entsteht allerdings aus dem Krankheitsbild noch nicht. Erst in die Gestalt eines dämonischen Wesens geklei-det und mit entsprechenden abergläubischen Vorstellungen verbunden wird daraus eine solche, für die dann auch Abwehrmöglichkeiten angegeben werden können.
Wie werden Sagen heute verbreitet? Noch immer im Schulunterricht, vor allem aber über Bücher, Zeitungen und andere Medien. Nachforschungen ergeben,:noch immer durch Erzählen. Die wichtigsten Sagenerzähler aber sind heute die Schloß-, Burg- und Stadtführer, Reise- und Wanderleiter und -führerinnen. Sagenerzählen spielt sich heute weitgehend auf dem weiten Feld des Tourismus ab. Sagen sind also nicht nur Faktoren der regionalen Identität sondern sie spielen auch eine Rolle bei der Präsentation der Thüringer Regionen. Dass sogar die bösen Aufhockerdämonen dafür nutzbar zu machen sind, zeigt das Beispiel eines „Pumpälz-Weges“ bei Gumpelstadt , der inzwischen die
Menschen zum Wandern, Joggen und Radfahren ins Grüne lockt und Marken-zeichen für hochkarätige Sportereignisse geworden ist. Die Ausgestaltung dieses Weges führt an 22 markierten historischen Örtlichkeiten vorüber, von denen Sagen überliefert sind, und die überdies mit originellen Holzskulpturen, darunter auch gruseligen Aufhockerdämonen geschmückt sind.
Der Referent konnte resümieren: Das prophezeite Aussterben der Sagen ist nicht eingetreten, ihre Rezeption hat sich jedoch stark
gewandelt. Ein jeder mag sich selbst ein Bild über den gegenwärtigen Umgang mit diesem Teil unseres Kulturerbes machen und es bewerten.
Herzlicher Beifall dankte Herrn Rainer Hohberg für seine eindrucksvollen Darlegungen.
Friedrich Wilhelm Trebge