Jugenderinnerungen von Hermann Müller

Jugenderinnerungen eines Geraer Mittelschülers – Hermann Müller berichtete über das Schullandheim in Heinrichsruh

Reflexionen über das eigene Leben beginnen zumeist erst im höheren Lebensalter. Dabei erinnert man sich gewöhnlich nur an Einschneidendes, den gewohnten Lebenspfad Veränderndes. Für die Generation des 78jährigen Geraer Heimatforschers Hermann Müller war das Jahr 1945 eine solche Wendemarke, die alles Bisherige in Frage stellte. Der durch Publikationen und Vorträge bekannte Regionalgeschichtler widmete das jüngste Sonntagsgespräch des Vogtländischen Altertumsforschenden Vereins Hohenleuben am 20. April einem eher unspektakulären, aber nicht minder interessantem Thema; dem 1948 abgerissenen Schullandheim der von 1901 bis 1945 bestehenden Geraer Mittelschule – jener Lehranstalt, in der er selbst prägende Jahre verbrachte. Eine jüngst wieder entdeckte Postkarte, die ein Klassenkamerad im Jahr 1944 nach Hause geschickt hatte, weckte bisher verschüttete Erinnerungen und war Anlass für umfangreichere Recherchen über ein interessantes Kapitel reußischer Schulgeschichte.

Vor etwa 30 Heimatfreunden berichtete der Referent zunächst ausführlicher aus der Geschichte des Parks Heinrichsruh bei Schleiz, dessen Anfänge im Jahr 1704 liegen. Das in diesem gelegene, etwa 100 Jahre später im neogotischen Stil errichtete „Gotische Haus“, in dem übrigens am 5. Juli 1805 der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. und seine Gattin auf der Reise vom Fichtelgebirge nach Gera übernachtet hatten, wurde 1927 vom Geraer Fürstenhaus der Geraer Mittelschule als Schullandheim mietfrei zur Verfügung gestellt. In den auf Schloss Osterstein geführten Verhandlungen wurde festgelegt, dass der kurz zuvor gegründete Schulverein für die Unterhaltung und Einrichtung verantwortlich zeichnet; dieser hatte auch zu garantieren, „dass Haus, Park, Wald und die Felder der Oschützer Flur von den Kindern durchaus pfleglich behandelt werden.“

Der am 1. Juni 1927 ins Leben gerufene Schulverein hatte bald über 400 Mitglieder; die Eintragung ins Vereinsregister erfolgte am 18. November. Dank großer Gebefreudigkeit und erheblichen Arbeitseifers (so wurden 1500 Mark gespendet; Geschäftsleute und Schülereltern stellten Einrichtungsgegenstände zur Verfügung und sorgten für den Transport, und die fürstliche Kammer übernahm Bau- und Instandsetzungsarbeiten) war das Gebäude schon am 7. Juli bezugsfertig. Die erste Belegung (34 Mädchen der 9. und 10. Klassen) war sogar bereits drei Tage vorher samt Lehrerin und Köchin eingezogen. Zur offiziellen Einweihung am 7. Juli 1927 kamen mit einem Sonderzug etwa 1000 Personen von Gera nach Schleiz. Ein Schüler hat im Tagebuch notiert: „Seine Durchlaucht, Fürst Heinrich XXVII. und Herr Rektor Munzel hielten Ansprachen. Darauf sang der Mädchenchor der Schule einige Lieder. Die Knaben machten turnerische Übungen und die Mädchen Spiele. Dann gingen wir mitr unserem Lehrer in das Gasthaus „Luginsland“. Hier erfrischten wir uns“; anschließend fuhr man mit dem Zug nach Gera zurück. Der Zug der Geraer Mittelschüler, die unter Trommelklang von Schleiz nach Heinrichsruh marschiert waren, dürfte sicher auch den Schleizern länger in der Erinnerung geblieben sein.

Zur ersten Belegung des neuen Schullandheims gehörte als unterstützender Lehrer übrigens auch Paul Ernst Kretschmar, der bekannte Geraer Stadtarchivar (Verfasser von „Schloß und Park Heinrichsruh“. GTera 1927). Erster „Heimführer“ war Realoberlehrer Otto Wissinger, der aus Heinrichsruh stammte und weitere Einheimische zur Unterstützung motivierte. Abreisetag in Gera (Belegung im 14-Tage-Turnus) war jeweils der Freitag; die Zugfahrt dauerte mit zweimaligem Umsteigen von 6.35 Uhr bis 10.01 Uhr.

Von 1927 bis 1937 haben auf diese Weise rund 3800 Stadtkinder das Landleben kennen gelernt. Frische Luft und körperliche Betätigung taten den Schülern gut, auch wenn die hygienischen Bedingungen aus heutiger Sicht nicht immer den Ansprüchen genügten. So musste Brauchwasser mit dem Handwagen etwa einen Kilometer entfernt aus dem Waldteichbrunnen geholt werden; Milch besorgte man auf gleiche Weise vom „Kalten Vorwerk“ westlich der Landstraße. Zum Transport des benötigten Feuerholzes diente ein Leiterwagen.

Das von 1927 bis 1932 erhaltene „Heimtagebuch des Schullandheims“ im Geraer Stadtarchiv und das bereits genannte Schülertagebuch, dessen Verfasser 1941 in Russland fallen sollte, berichten vom Alltag. Daraus erfährt man auch, dass es bereits 1930 einen Spielmannszug gab, der mit Trommeln und Pfeifen durch die Dörfer zog und in Zollgrün, Tanna, Frankendorf und Mielesdorf aufspielte. Oberstudienrat Genschel (Spitzname „General“) leitete im Oktober 1931 eine militärische Übung der Knaben, bei der Oschütz „erobert“ wurde, wonach man im Walterschen Gasthof einkehrte. 1932 wird eine Radfahrerkompanie des Landheims erwähnt; im Oktober 1931 hatte das Gebäude übrigens kurzzeitig Einquartierung durch Arbeitsdienstler; bis das Lager am Wolfsgalgen errichtet war. So spiegelt sich auch hier die politische Entwicklung wider, die zur allmählichen Wiederaufrüstung und zum verheerenden zweiten Weltkrieg führte. Pro Jahr waren 12 bis 13 Gruppen im Heim; die letzte nachweisbare Belegung erfolgte im Juli 1944.

Die im April 1945 einrückenden Amerikaner hatten für das Gebäude keine Verwendung; die Rote Armee nutzte die Schlafsäle als Kuhstall. Drei Jahre nach Kriegsende wurde das inzwischen verwahrloste Gebäude abgerissen.

Der Referent veranschaulichte das Gesagte anschließend mit Lichtbildern, die in die Vergangenheit zurückführten, aber auch den gegenwärtigen Zustand des Geländes zeigten. Herzlicher Beifall dankte für den aufschlussreichen Vormittag. Die Ausführungen sollen übrigens nach Möglichkeit bei einer Veranstaltung im Gasthaus „Luginsland“ an der Schleizer Rennstrecke auch dortigen Interessenten zur Kenntnis gebracht werden.

Dr. Frank Reinhold

20-Apr-2007 | 2007, Nachlese

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